Mittwoch, Oktober 21, 2015

Begegnungen mit dem Mor-Gen

Heute morgen in der U-Bahn: eine junge Kolumbianerin lacht ganz natürlich und befreit, nachdem sie besorgt versucht hatte ihr Hemd zu richten, damit ihr Chef sie nicht als Schlampe in Erinnerung behält. Eine Japanerin versucht noch vor Dienstbeginn den Kontakt mit ihrem Freundeskreis herzustellen. Vor dem anwesenden Personenkreis in der U-Bahn schützt sie sich mit einer Sonnenbrille. Ich muss unwillkürlich an Yoko Ono denken und frage mich, ob sie jemals so glücklich gelächelt hat? In der U-Bahn klappt derweil nur ein Versuch und aufatmend redet sie sich fast hastig ihr Glück von der Seele. Ein blonder verhärmter Gesichtsausdruck zeugt von unerfülltem nächtlichen Verlangen und wiederum ist es die Sonnenbrille, die sie vor einem aufmunternden Lächeln bewahrt. Ein junger amerikanischer Yuppie bügelt seinen teuren grauen Anzug zurecht, seine abgegriffene Ledertasche symbolisiert seine Träume, aber mit seinem Gehalt wird er sie sich wohl erfüllen können. Die Frage ist nur, ob sein Ego da mitspielen wird oder ob es ihn in eine lebenslange Treibjagd verstricken wird? Würde ich wirklich mit ihm tauschen wollen? Mein alter Begleiter Norbert Neid klopft mir auf die Schulter, aber ich mag ihm heute morgen nicht zuhören. Hermann Hesse fällt mir ein, der dazu eine Kurzgeschichte geschrieben hat über einen Gefangenen der zu einem Kloster aufblickt und sich wünscht dort zu sein und zur gleichen Zeit von einem Mönch aus eben jenem Kloster wegen seines freien abenteuerlichen Lebens beneidet wird. Am Ende der Geschichte sitzt der Mönch im Gefängnis und schaut zum Kloster auf und entdeckt die wahren Gefühle des anderen Gefangenen aus einer anderen Zeit.

(Das Bild zeigt Hannie van Aken, die Bodybuilderin.)

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